Pressemitteilung vom 9. Januar 2012

Vögel und Schmetterlinge "flattern" dem Klimawandel hinterher

Europäische Studie zeigt erstmals Auswirkungen auf großer Skala

Montpellier/London/Halle (Saale). Vögel und Schmetterlinge können offenbar mit dem Klimawandel nicht mithalten. Die Temperaturen haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten in Europa schneller erhöht als beide Tiergruppen sich anpassen konnten. Sie sind damit langsamer nach Norden gewandert als es ihre klimatischen Erfordernisse für nötig erscheinen lassen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die das Fachmagazin Nature Climate Change am Sonntag online veröffentlicht hat. Im statistischen Mittel lägen demnach Schmetterlinge 135 und Vögel sogar 212 Kilometer gegenüber der Temperaturerhöhung und der Verschiebung ihrer Lebensräume nordwärts zurück.

Moor-Wiesenvögelchen

Das Moor-Wiesenvögelchen (Coenonympha tullia) ist ein Tagfalter, der auf Moorgebiete angewiesen ist und der allein schon aufgrund des Mangels an solchen Lebensräumen den klimatischen Verschiebungen nicht folgen kann.
Foto: Chris van Swaay / Butterfly Climate Risk Atlas 2008

Segelfalter

Der Segelfalter (Iphiclides podalirius) ist ein Schmetterling, der nach dem was bislang bekannt ist, den klimatischen Verschiebungen besser folgen kann als viele andere Arten.
Foto: Chris van Swaay / Butterfly Climate Risk Atlas 2008

Nutzungsbeschränkung Fotos: kostenfrei bei redaktioneller Nutzung, Verwendung nur unter Angabe der Quelle und im Zusammenhang mit der Pressemitteilung

Dies ist der erste Beleg für einen ganzen Kontinent, dass der Klimawandel zu einer deutlichen Verschiebung der Lebensräume führt und Lebensgemeinschaften aus verschiedenen Tiergruppen auseinander reißen kann. Für die Studie wertete das internationale Forscherteam Daten von ehrenamtlichen Beobachtungsnetzwerken aus, die aufgebaut sind wie das Tagfaltermonitoring Deutschland und die durch rund 1,5 Millionen Beobachtungsstunden erhoben wurden.

Die Autoren hatten für ihre Studie eine einfache Methode entwickelt, um abzubilden und auszuwerten, ob, wie und wo bestimmte Tier- und Pflanzengruppen vom Klimawandel beeinflusst werden. Dazu entwickelten sie einen Index für die Durchschnittstemperatur, unter der Arten vorkommen. Für Vögel und Tagfalter wurde dieser hier aus über 9000 bzw. über 2000 Beobachtungsorten in Europa berechnet. Für jede Art lässt sich daraus ein sogenannter "Species Temperature Index" (STI) berechnen. Nimmt man dann alle Arten an einem Standort zusammen, so bildet dann der Durchschnittswert der STIs aller Arten den "Community Temperature Index" (CTI). Wird nun dieser CTI nach einer gewissen Zeit wieder erhoben, lassen sich klimabedingte Veränderungen in den Artenzusammensetzungen relativ leicht messen. In der hier vorliegenden Studie zeigten sich im Beobachtungszeitraum von 1990 bis 2008 deutliche Verschiebungen. "Die Veränderungen im Community Temperature Index (CTI) sagen zwar nichts darüber aus, wie einzelne Arten vom Klimawandel beeinflusst werden, aber sie zeigen sehr gut das Gesamtbild des tatsächlichen Rückganges der kälteliebenden Arten, der Zunahme von wärmeliebenden Arten und der Summe aus beiden", erläutert Dr. Vincent Devictor vom französischen Zentrum für wissenschaftliche Forschung (CNRS).

In den letzten beiden Jahrzehnten haben sich die Lebensräume der Tagfalter und Vögel in Europa im Mittel um 249 Kilometer nach Norden verschoben. Die Schmetterlinge sind dagegen statistisch gesehen nur 114 Kilometer nordwärts gewandert. Noch größer ist die Kluft bei den Vögeln Europas: Hier steht einer Temperaturveränderung von 249 Kilometern lediglich eine Wanderung von 37 Kilometern gegenüber.

"Unsere Ergebnisse weisen nicht nur darauf hin, dass Vögel und Schmetterlinge nicht schnell genug dem Klimawandel hinterher ziehen können. Sie zeigen auch, dass die Lücke zwischen beiden Gruppen größer wird", betont Chris van Swaay von der Niederländischen Schmetterlingsstiftung. Für die einzelnen Länder sind die Ergebnisse recht unterschiedlich: So hat sich die Durchschnittstemperatur der Lebensräume von Vogelarten in Tschechien kaum, in Schweden dagegen stark erhöht. Bei Schmetterlingen gab es in Großbritannien nur geringe, in den Niederlanden dagegen starke Veränderungen.

"Daten aus Deutschland, wie sie im Rahmen des Tagfalter-Monitoring (TMD) erhoben werden, dürften in wenigen Jahren dann auch ähnliche Analysen zulassen, waren hier aber noch nicht mit eingeflossen, da sie noch nicht lange genug vorlagen, um hier vergleichbar mit einfließen zu können. Die Studie zeigt, wie wichtig solche Netzwerke von ehrenamtlichen Beobachtern für die Wissenschaft sind", teilte PD Dr. Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) mit, das an der Studie beteiligt war.

Gerade bei Vögeln sind die Ergebnisse überraschend. Kaum eine Tiergruppe ist so mobil und legt so weite Wege zurück. Die Erklärung dafür ist dennoch einfach: „ Dass Schmetterlinge im Schnitt auf europäischer Ebene schneller auf den Klimawandel reagieren als Vögel, könnte daran liegen, dass sie relativ kurze Lebenszyklen haben und sehr temperatursensibel sind, was ihnen ermöglicht, Temperaturveränderungen besser zu verfolgen, als Vögel es können", vermutet Dr. Oliver Schweiger vom UFZ.

Trotzdem sind die Ergebnisse aus Sicht der Wissenschaftler alarmierend, denn Vögel und Schmetterlinge zählen zu den am meisten verbreiteten und mobilsten Tiergruppen. Die Verzögerung bei der Klimadrift könnte verschiedenste Lebensgemeinschaften auseinanderreißen, fürchtet Josef Settele: "Zum Beispiel sind viele Vogelarten bei ihrer Ernährung auf Raupen bestimmter Schmetterlingsarten angewiesen und könnten daher unter den Veränderungen leiden. Je spezialisierter eine Art ist, umso gefährdeter wird diese durch solche Verschiebungen sein. Die Raupen des Natterwurz-Perlmutterfalter (Boloria titania) sind beispielsweise auf den Wiesenknöterich (Polygonum bisorta) als Fraßpflanze angewiesen. Auch wenn es diese Schmetterlingsart vielleicht gerade noch so schaffen würde, mit den Temperaturen mitzuziehen - die Pflanze, von der sie abhängig ist, ist dagegen bei weitem nicht so mobil." (siehe UFZ-Spezial April/2008, S. 12, www.ufz.de/index.php?de=16853)

Daneben zeigt die Studie aus Sicht der Wissenschaftler vor allem, wie wichtig die von ehrenamtlichen Beobachtern zusammengetragenen Daten zu den Veränderungen in der Natur sind und dass Vorhersagen für die Auswirkungen des Klimawandels auf Ökosysteme nur möglich sind, wenn die komplexen Veränderungen in den Strukturen und der Zusammensetzung der Lebensgemeinschaften über die ganze Nahrungskette hinweg erfasst werden.
Tilo Arnhold

Publikation

Vincent Devictor, Chris van Swaay, Tom Brereton, Lluís Brotons, Dan Chamberlain, Janne Heliölä, Sergi Herrando, Romain Julliard, Mikko Kuussaari, Åke Lindström, Jirí Reif, David B. Roy, Oliver Schweiger, Josef Settele, Constantí Stefanescu, Arco Van Strien, Chris Van Turnhout, Zdenek Vermouzek, Michiel WallisDeVries, IrmaWynhoff and Frédéric Jiguet (2012):
Differences in the climatic debts of birds and butterflies at a continental scale. Nature Climate Change. AOP, DOI: 10.1038/NCLIMATE1347, Published online: 8 January 2012
www.nature.com/doifinder/10.1038/nclimate1347
www.nature.com/nclimate/index.html
Die Untersuchungen wurden u.a. von der Europäischen Union im Rahmen der EU-Projekte ALARM, MACIS und STEP sowie vom BMBF im Rahmen des Projektes CLIMIT gefördert.

Weitere Informationen

Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ)
PD Dr. Josef Settele per Mail via
PD Dr. Josef Settele

Dr. Oliver Schweiger
Telefon: 0345-558-5306
Dr. Oliver Schweiger

Tilo Arnhold (UFZ-Pressestelle)
Telefon: 0341 235 1269
presse@ufz.de

sowie auf Englisch:

Dr. Vincent Devictor
Institut des Sciences de l’Evolution - Montpellier (I.S.E.-M.) / CNRS
Phone: (+00 33) 467144081 & (+00 33) 609467841
Dr. Vincent Devictor

Chris van Swaay
Dutch Butterfly Conservation, The Netherlands.
Chris van Swaay

Weiterführende Links

Wirtschaftliche Entwicklung und die Erhaltung der biologischen Vielfalt in Europa müssen keine Gegensätze sein (Pressemitteilung vom 12. Dezember 2011):
www.ufz.de/index.php?de=22386

Alarm für seltene Schmetterlinge in Europa (Pressemitteilung vom 5. Oktober 2011):
www.ufz.de/index.php?de=22156

Ein Drittel der Schmetterlinge Europas gefährdet (Pressemitteilung vom 18. März 2010):
www.ufz.de/index.php?de=19465

Deutsche Schmetterlingsexperten exportieren Know-how (Pressemitteilung vom 14. August 2009):
www.ufz.de/index.php?de=18495

Tagfalter-Monitoring Deutschland (TMD)
www.tagfalter-monitoring.de

Im Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) erforschen Wissenschaftler die Ursachen und Folgen der weit reichenden Veränderungen der Umwelt. Sie befassen sich mit Wasserressourcen, biologischer Vielfalt, den Folgen des Klimawandels und Anpassungsmöglichkeiten, Umwelt- und Biotechnologien, Bioenergie, dem Verhalten von Chemikalien in der Umwelt, ihrer Wirkung auf die Gesundheit, Modellierung und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Ihr Leitmotiv: Unsere Forschung dient der nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen und hilft, diese Lebensgrundlagen unter dem Einfluss des globalen Wandels langfristig zu sichern. Das UFZ beschäftigt an den Standorten Leipzig, Halle und Magdeburg ungefähr 1.000 Mitarbeiter. Es wird vom Bund sowie von Sachsen und Sachsen-Anhalt finanziert.

Die Helmholtz-Gemeinschaft leistet Beiträge zur Lösung großer und drängender Fragen von Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft durch wissenschaftliche Spitzenleistungen in sechs Forschungsbereichen: Energie, Erde und Umwelt, Gesundheit, Schlüsseltechnologien, Struktur der Materie, Verkehr und Weltraum. Die Helmholtz-Gemeinschaft ist mit über 30.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in 18 Forschungszentren und einem Jahresbudget von rund 3 Milliarden Euro die größte Wissenschaftsorganisation Deutschlands. Ihre Arbeit steht in der Tradition des Naturforschers Hermann von Helmholtz (1821-1894).